Mittwoch, 18. August 2010

Vorzimmer-Drachen

Wahrscheinlich kann ich bei diesem Thema erst mitreden, wenn ich selbst 20 Jahre in einem Job verbracht habe, den ich hasse, mit Menschen, die mich nerven und einem Gehalt, dass nicht annähernd als Schmerzensgeld funktioniert. Trotzdem, aus der Opferperspektive kann ich es ja jetzt schon mal probieren - als Opfer des vermutlich bis zur absoluten Frustration frustrierten Drachens, den sich mein Arzt in seinem Vorzimmer hält.

Diese merkwürdige Verbindung ist, nebenbei bemerkt, die einzige erkennbare Schwäche meines Arztes, und vermutlich kommt sie nur zustande, weil er ja arbeitet, während sie pampig zischend die Arbeit verweigert - und weil sich kaum jemand traut, ihm von den Zuständen in seiner Praxis zu erzählen. Ich übrigens auch nicht. Der Mann ist so nett. Das würde er sicher nicht durchstehen.

Ist aber auch verdammt schwer, das Durchstehen. Oder Durchsitzen, je nachdem, wieviel Glück man hat. Glück ist in diesem Fall schon, wenn man überhaupt während der Sprechstunde rein darf und nicht vor verschlossener Türe steht. Denn der Drachen schließt gerne mal ab, wenn er genug hat. Auch schon um 10 Uhr. Wer rein darf, stößt die Tür zwangsläufig gegen den letzten in einer etwa fünf Meter langen Schlange, die sich vor dem Pult am Eingang windet. Hinter dem Pult: 1,65 Meter Mensch, so in sich zusammengesackt, dass die blaßweiße Haut unter den Sommersproßen noch mehr Falten wirft, als es für die gefühlten 50 Jahre dauer-angepissten Daseins auf dieser Erde zu erwarten wäre. Randlose Brille vor trübgrauen Augen, aus denen Blitze schießen, wann immer jemand außer dem Drachen höchstpersönlich etwas sagt. Das klingt dann tatsächlich, als würde man den Grill löschen mit fünf Litern Wasser, Thüringer Waldquell, um genau zu sein. In diesen Fällen spontaner Eruption schwingt dann auch das fusselige blonde Haar erbost mit in Richtung des unverschämten Patienten, um anschließend schön kopfnah wieder unmotiviert abzuhängen.

Merkt man eigentlich, dass ich diese Frau optisch schon zum Reinschlagen finde? Ne, oder?

Aber sie verdient sich meine Aggressionen auch auf jedem anderen Weg, und immerhin das tut sie fleißig. Bei meinem ersten Besuch ließ sich mich eine Stunde im Wartezimmer hocken, um mir dann zu sagen: "Wir nehmen keine neuen Patienten auf, schönen Tag noch!" Nur eine herannahende Ohnmacht hielt mich davon ab, ihr mit der Chipkarte, die sie mir über den Tresen zurück schob, ein schönes "Z" zwischen die Sommersprossen zu ritzen und das im Anschluss als Malen nach Zahlen im Fieberwahn zu erklären. Da der Blutdruck messbar nicht stimmte, wie eine nicht ganz so arbeitsscheue Kollegin des Drachen feststellte, wurde ich behandelt - und werde seitdem vom Drachen misshandelt, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Schließlich habe ich mich als zusätzliche Arbeit frech eingeschleust, und nichts hasst der Drachen mehr als: Arbeit. Außer eben: zusätzliche Arbeit.

Dass sie mich, wann immer ich anrufe, schon direkt nach dem "Hallo" anschnauzt ("Können Sie endlich mal was sagen?" - "Entschuldigung, Sie haben vor drei Sekunden erst abgenommen und vor einer halben mit dem Reden aufgehört. Wusste nicht, dass ich schon dran bin." - "Ich lege gleich auf!"), kann kaum mit mir zu tun haben. Das ist vermutlich die Deluxe-Behandlung, die sie allen Patienten zukommen lässt. Manche von ihnen versuchen ja deshalb auch, sich mit Blumen und Pralinen einzuschleimen, die sie immer wieder wortlos entgegennimmt und mit eingefrorenem Gesicht auf einen Haufen (kein Scherz!) links von sich wirft. Um das gleich mal aufzuklären: Einen erkennbaren Vorteil dieser Bestechungsversuche habe ich noch nie erlebt.

Okay, vielleicht müssen die Schenker nicht vier Stunden warten, bis sie zwei Minuten ins Sprechzimmer dürfen. Und wenn, dann liegt das vielleicht wenigstens nicht daran, dass der Drachen die Chipkarte zwei Stunden lang "vor lauter Arbeit übersehen" hat. Das hat sie zumindest heute behauptet. Da ich mich erstens schon drauf eingestellt hatte und zweitens auf meinem angestammten Spion-Platz im Wartezimmer saß kann ich jetzt auch besser einschätzen, was der Drachen für eben diese Arbeit hält, dank der sie glatt ihre eigentliche Arbeit übersieht: Kuchen fressen. Leute anpampen. Dreimal die Tür zu- und auf Wink einer Kollegin reumütig wieder aufschließen. Für eine Stunde verschwunden sein. Einmal rufen "Labor ist DAAAAAHAAA!", um die Laborergebnisse dann erstmal runterzuwerfen und von einer Kollegin neu sortieren zu lassen. Und - ihre absolute Lieblingsbeschäftigung am heutigen Vormittag - in der Weltgeschichte rumtelefonieren und zuckersüß flöten: "Wir sind nämlich morgen nicht daaaaaaaaaaahaaaaaaaaaaa, die Praxis ist geschlossen."

Okay, ich habs mir überlegt: Wenn 20 Jahre lang nur das Verkünden meines süßen Nichtstuns und das Beschimpfen von Leuten, die mich beschenken, mein Auskommen gesichert haben, bin ich garantiert nicht so frustriert wie dieses dampfabsondernde Wesen. Und die Bezahlung kann sogar sein, wie sie will!

Freitag, 13. August 2010

"Hüüüüüüüüüüh!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!"

Wenn ich meiner Mutter etwas erzähle, das ihr überhaupt nicht in den Kram passt, klingt sie so. Nach letztem Atemzug vor dem ewigen Schlaf, nach einem zum Bersten gefüllten Luftballon, aus dem voll geladen die Luft entweicht. Das entsetzte Gesicht zum Geräusch hat sich ebenfalls in mein Gedächtnis gebrannt - als ich mit sieben heimlich auf den Zehnmeterturm geklettert bin und von oben gewunken habe. Da hat sie sicher genauso geklungen, nur hab ich es nicht gehört. Ich bin runtergehüpft, zum Beckenrand geschwommen, rausgeklettert - und bekam eine geknallt.

Das wäre glaube ich auch heute noch ihre Reaktion zum Geräusch, wenn es nicht so ganz besonders unpassend wäre, seine erwachsenen Kinder für Lebensentscheidungen zu vertrimmen. Also "hüüüüüüüüh!"t sie mich eben an, wann immer ihr der Sinn danach steht. Gerade eben zum Beispiel. Zwei Tage nach einem Vorstellungespräch für einen Job, keinen besonders tollen, keinen besonders schlechten, einen im wahrsten Sinne des Wortes einwandfreien Job, sage ich ihr: "Wollte euch nur wissen lassen, dass ich das nicht mache. Dafür schiebe ich meine Weltreise nicht auf. Ich habe abgesagt, denn ich will mich nicht in ein paar Jahren fragen, was ich eigentlich mit meinem Leben hätte anstellen wollen - das muss jetzt passieren." Ihre Reaktion? "Hüüüüüüüüüüh!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! (laaange Pause) Na, musst du ja wissen."

In einem großartigen Roman habe ich gelesen, dass das eigene Leben auf fünf Säulen steht: Familie, Liebe, Wohnung, Arbeit, Freunde. Und wenn sich meine Familie nicht irgendwann mal davon verabschiedet, mein Leben ganz diktieren zu wollen, dann bleiben wirklich "nur noch" Freunde. Und da sag noch einer, es wäre nicht an der Zeit zu verreisen. Hüüüüüüüh!